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Freitag, 29. März 2024
Moral berechnen?

Von Werten, die keine sind

Hintergrund | Andreas Rockenbauer | 09.12.2018 | |  Archiv

Ich kam mir vor wie der letzte Tölpel, dabei hätte mir die Art der Fragestellung Warnung genug sein müssen. Aber ich war derart überzeugt von dieser wunderbar einfachen und praktischen Idee, dass ich mein Hirn in den Energiesparmodus versetzte und meine rechte Hand reflexartig nach oben reckte. Wie ein Streber zeigte ich auf. Wahrscheinlich grinste ich auch dabei, aber das ist jetzt nur eine Vermutung.

„Wer hält das für eine gute Idee?”, hatte die Professorin gefragt und ihren forschenden Blick ins Auditorium geworfen. Als ich bemerkte, dass nur etwa zehn Studenten von geschätzten 200 im Hörsaal die Idee für ähnlich gut hielten wie ich, begann ich zu ahnen, dass ich über all die Begeisterung vielleicht das eine oder andere wichtige Detail übersehen haben könnte. Und so war es auch.

Ich saß in einer Einführungsvorlesung zum Thema Ethik und wir waren gerade bei der Idee von zwei Briten – Jeremy Bentham und John Stuart Mill – rund um den Wechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert gelandet. Die beiden hatten mit dem Utilitarismus eine Theorie entwickelt, wie man den moralischen Wert einer Handlung ganz einfach berechnen konnte.

Das schien durchaus Sinn zu machen, weil dieser Utilitarismus die Nutzenoptimierung in das Zentrum aller Überlegungen stellte und damit eine äußerst pragmatische Position vertrat. Demnach ist moralisch geboten, was den Gesamtnutzen einer Handlung (im Sinne menschlichen Wohlergehens) aller Betroffenen maximiert, bzw. deren Leid minimiert. Damit ist etwa eine Lüge moralisch unbedenklich, solange sie einen – in Summe – positiven Effekt hat. Moral als eine Art Optimierungsaufgabe sozusagen.

Steht man etwa vor der Aufgabe, eine von mehreren möglichen Entscheidungen treffen zu müssen, braucht man bloß für jede Entscheidung das dadurch entstehende Wohlbefinden aller davon Betroffenen addieren und von dieser Summe das eventuell entstehende Leid subtrahieren. Flugs wäre damit jene Entscheidung identifiziert, die moralisch geboten ist. Jene nämlich, deren Saldo aus Glück und Leid am höchsten ist.

Einem Techniker wie mir schien das ein genialer Gedanke zu sein – damit könnte sogar ein Computer über den moralischen Wert einer Handlung entscheiden. Was aber war mir und den paar anderen Tölpeln, die gleichzeitig mit mir aufgezeigt hatten, entgangen? Im Nachhinein war ich unfassbar naiv, und die Professorin machte kurzen Prozess mit mir: „Dann verraten Sie mir mal”, sagte sie und sah mich durchdringend an dabei, „wie Sie den Wert von Glück und Leid einer Entscheidung berechnen wollen. Und wie wollen Sie jemals im Detail identifizieren, wer aller von Ihrer Entscheidung betroffen ist?” Schweigen im Wald. 

Der langen Rede kurzer Sinn: Das funktioniert natürlich nicht! Weil – und das ist der springenden Punkt – sich einfach nicht alles in Zahlen gießen lässt. Im Gegenteil, ist unsere hoch komplexe Welt derart vielfältig und reichhaltig an Nuancen, dass sich nur die wenigsten Dinge in harten Werten ausdrücken lassen. Und wenn, dann oft nur zum Preis des Informationsverlustes und der – auf längere Sicht – unhaltbaren Vereinfachung.

Leider tendieren wir immer öfter dazu, genau diese Tatsache zu ignorieren und alles, aber auch alles, in Zahlen ausdrücken zu wollen. Sei es in Form eines „Paarfaktors” auf Online-Plattformen („Was wir haben nur 87? Dann lohnt sich ein weiterer Kontakt wohl gar nicht…”) oder des simplen Intelligenzquotienten („Schau dir den Trottel an, mit 94 ist es ja ein Wunder, dass der unfallfrei essen kann”).

Schon der Computerpionier Joseph Weizenbaum machte sich Anfang der 1970er Jahre in seinem berühmt gewordenen Buch „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft” lautstark lustig über die Idee, komplexe Eigenschaften auf simple Werte verkürzen zu wollen und den damit verbundenen Verlust an Information nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Ganz besonders wunderte ihn das bei der Bewertung der menschlichen Intelligenz, die in ihrer Vielfalt seiner Meinung nach niemals in einer einzigen Zahl einzufangen sei, noch dazu, wo jeglicher (absoluter) Maßstab fehle: „Selbst eine Mutter mit minimaler Schulbildung, die keinen einzigen grammatisch korrekten Satz in ihrer Muttersprache zustande bringt, gibt konstant höchst differenzierte und intelligente Urteile über ihre Familie ab.”

Oder denken Sie an die Antwort auf die Frage, ob ein bestimmter Mensch auf einem Foto eine Glatze hat. Das wird kaum jemandem schwer fallen – die Antwort kommt ganz intuitiv und nur in wenigen Grenzfällen wird man überlegen müssen. Aber woran sollten wir das wertmäßig festmachen? Macht es etwa Sinn, zu behaupten, dass x Haare am Kopf noch nicht als Glatze gelten, x minus eins aber schon? Das scheint absurd. Und ist es auch.

Beinahe unablässig muss jeder Mensch Entscheidungen treffen und Urteile fällen, obwohl nicht alle notwendigen Informationen verfügbar sind. Und in den meisten Fällen fällt uns das nicht einmal auf. Wir tun das einfach intuitiv und haben selten ein Problem damit, sogenannte vage Ausdrücke (groß, schön, viel, wenig, glücklich, erfolgreich, stark usw.) mit großer Selbstverständlichkeit zu verwenden, obwohl wir zu kaum einer Eigenschaft einen exakten Wert angeben könnten, ab dem diese Eigenschaft objektiv gültig ist. 

Die Segnungen der Digitaltechnik sind nicht zu unterschätzen, aber unbestritten ist, dass wir alle Teil einer durch und durch analogen Welt sind. Man muss kein Techniker sein, um zu erkennen, dass beim Übergang von einer analogen zu einer digitalen Betrachtung der Welt eine ganze Menge Farben, Schattierungen und wertvolle Zwischentöne – unendlich viele Nuancen – unwiederbringlich verlorengehen. Kaum etwas ist schwarz oder weiß – feine Grautöne bilden die Wahrheit oft viel besser ab. Tja, aber Weihnachten ist weiß … nein, grün. Egal – die Antwort auf alles ist jedenfalls 42.

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