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Samstag, 27. April 2024
Veränderung tut not – aber nicht nur bei „den Anderen”

Packen wir´s an

Hintergrund | Andreas Rockenbauer | 12.11.2017 | |  Archiv

Über die ganz prinzipielle Notwendigkeit von Veränderung herrscht fast so etwas wie allgemeiner Konsens. Ob das nun staatliche Systeme, Gesellschaften, Unternehmen oder Organisationen verschiedenster Art betrifft. Bei der Frage jedoch, was den nun tatsächlich verändert werden soll, liegen die Auffassungen fast immer weit auseinander. Je nachdem, wer gerade über Veränderung nachdenkt. Denn man selbst würde das am liebsten vom Fauteuil aus beobachten. Irgendwie sehr menschlich, aber funktionieren kann das nicht.

Diesmal möchte ich mit einem kleinen Gedankenexperiment beginnen: Nehmen wir an, eine Gruppe von Menschen steht vor der Gründung einer Organisation und überlegt sich, welche Jobs dort nötig sind und mit welchen Rechten und Pflichten die einzelnen Positionen – vom Reinigungspersonal, über den Portier bis zur Geschäftsführung – ausgestattet werden.

Allerdings, und das ist der springende Punkt, wird all das ausgehandelt bevor(!) jeder weiß, welche Funktion er künftig innehaben wird. Das wird anschließend ausgelost.

Wie viel anders als gewohnt würde das Konzept einer Organisation wohl aussehen, in der jedes einzelne Mitglied vorab keine Ahnung hätte, ob er (oder sie) am Ende des Tages etwa als Putzfrau/mann oder im Top-Management seinen Platz finden wird?

Ich denke, dass sich diese deutlich von bestehenden unterscheiden würde, weil sich´s mit Blick auf die fehlende Information niemand vorab richten könnte und daher kluger Weise alle Positionen gleichwertig im Fokus haben müsste.

Die grundlegende Idee für diese Überlegungen stammt ursprünglich von einem Philosophen, der sich das anhand einer ganzen Gesellschaft überlegt hat. Allerdings kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wer das war. Roussau vielleicht, ist aber nicht so wichtig. 

Eingefallen ist mir die Sache, als ich vor kurzem mitten in die, hinter den Kulissen wieder einmal leidenschaftlich geführte, alljährliche Messediskussion hineingezogen wurde und nach anfänglichem Zögern (alles schon dagewesen, bitte ein neues Thema) schließlich doch Gefallen daran gefunden hatte.

Bei näherer Überlegung ist nämlich keinesfalls „alles schon dagewesen”. Im Gegenteil, schmort die Branche doch seit einer gefühlten Ewigkeit im eigenen Saft, beklagt lautstark ihr schlimmes Schicksal und ist in seltener Einigkeit unzufrieden, vom Industriemanager bis zum Kooperationsgeschäftsführer, vom Vertriebsleiter bis zum Handelsunternehmer.

Wer denkt, dass der Leidensdruck quer durch die Branche zur Ausformung neuer, aufregender Ideen führt, der ist auf dem Holzweg. Das Gegenteil ist der Fall.

Je nach Standpunkt lustig oder tragisch ist, dass diese Branche, die von einem schier nicht enden wollenden Innovationsstakkato ihrer Ingenieure lebt, völlig innovationsbefreit ist, wenn es darum geht, einen Branchenevent auf die Beine zu stellen, der vielleicht keine klassische Messe ist. Man muss den Eindruck gewinnen, dass man, bevor gemeinsam neue Wege eingeschlagen werden, lieber alle Initiativen einstellt und jeder sein eigenes Süppchen kocht. Dabei würde radikale Veränderung Not tun – am Ende des Tages wohl zum Gewinn aller.

Nachhaltige Veränderung muss jedoch immer von zwei Prozessen getragen werden, die einander diametral entgegenzulaufen scheinen. Das eine ist der Prozess des Alles-infragestellen-dürfens: In einem ersten Schritt darf nichts (und niemand) sakrosankt sein, nichts (und niemand) von Veränderungsüberlegungen ausgenommen werden. 

Parallel dazu müssen in einem zweiten Prozess aber auch Inseln der Stabilität identifiziert werden, auf denen Veränderungen überhaupt erst aufgebaut werden können. Damit meine ich etwa bestimmte, nicht verhandelbare Werte, die insofern zum Wesen einer Idee, einer Organisation, einer Veranstaltung gehören, als sie deren essenzielle Eigenschaften darstellen, ohne die diese ihre Identität verlieren würde.

Das Ergebnis von Veränderungsprozessen muss also eine Art „schöpferischer Zerstörung” sein, wie das neben Karl Marx auch der Ökonom Joseph Schumpeter genannt hat: Also nicht hirnlos alles niederzureißen, sondern auf stabilem(!) Fundament mit Leidenschaft und Intelligenz etwas Neues entstehen zu lassen.

Schon Archimedes stellte vor 2.200 Jahren fest: „Gebt mir einen festen Punkt im All und ich hebe euch die Welt aus den Angeln.” Beim Thema (Branchen-)Event würde ich als einen solchen stabilen Wert etwa das Treffen Gleichgesinnter identifizieren, das Reden, Lachen und Streiten mit Kollegen, Kunden und Lieferanten. Das Sich-auf-die-Schultern-klopfen, das gegenseitige Versichern, auch in Zukunft Geschäfte miteinander machen zu wollen. Das also, was man gemein hin mit Kommunikation bezeichnet.

Während mir hierzulande eine klassische Messe mit großen Ständen und überbordender Produktpräsentation entbehrlich scheint, muss ein künftiger Branchenevent meiner Meinung nach unbedingt die Kommunikation ins Zentrum stellen.

Ein Problem beim Prozess des Infragestellens ist jedoch evident: Nämlich die Perspektive, von der aus Veränderung betrachtet und gesteuert wird, sowie die Schwierigkeit, erstens die Starrheit der Denkmuster und zweitens die mit der jeweiligen Perspektive verbundenen blinden Flecken samt menschlichem Beharrungsvermögen und Eigeninteressen auszuhebeln. Ein Hindernis bei größeren Veränderungsprozessen ist oft ein systemimmanentes: Jene Gruppen, die diese Veränderungen managen, nehmen sich selbst gerne von diesen aus.

Das ist etwa in gesellschaftlichen Systemen auch nicht anders, wie das der politische Philosoph Michael Hardt analysierte, indem er sich Gedanken über die Unterschiede zwischen konstituierter und konstituierender Macht in Demokratien gemacht hat.

Hardt erkennt in der konstituierten Macht des Establishments jenes bewahrende Element, das ganz prinzipiell veränderungsavers ist, weil man dort befürchtet, im Zuge von Veränderungen am Ende des Tages nur verlieren zu können und Macht einzubüßen. Währenddessen wichtige Veränderungsströmungen von der Gesellschaftsbasis in Form von konstituierender Macht ausgehen.

Dass das nicht immer ganz friedlich und reibungsfrei abläuft, liegt auf der Hand.

Wenn man nun die Parallelen zu Unternehmen zieht, dann würde die Rolle des staatlichen Establishments vom Top Management verkörpert, das zwar im Allgemeinen nicht gar so veränderungsavers ist, sich bei Veränderungsprozessen jedoch – wie bereits erwähnt – selbst gerne davon ausnimmt.

Von den Veränderungsbestrebungen des Managements verschieden sind meist jene der Unternehmensbasis, was, wie in staatlichen Systemen, ebenfalls zu Konflikten führen kann.

Im Idealfall führen diese Konflikte in Unternehmen oder unternehmensänlichen Organisationen, nach mehr oder weniger großen Reibungsverlusten, schließlich doch zu einer wichtigen Weiterentwicklung des Systems.

Oder – im Falle des Scheiterns – zu dessen nachhaltiger Beschädigung.

In einem Artikel zu den „Möglichkeiten und Grenzen einer radikalen Transformation von Organisationen” konstatierte der Soziologe Rudolf Wimmer vor fast zwanzig Jahren, dass sich lebende Systeme im allgemeinen in einer Art „dynamischer Stabilität” befänden. Das ist zunächst eine gute Nachricht, weil sie bedeutet, dass sich gesunde Systeme ununterbrochen an kleine Veränderungen der Umwelt anpassen.

Allerdings – und das ist die schlechte Nachricht – sieht Wimmer die „unentrinnbaren Tendenzen von Organisationen, für die Fortsetzungen jener eingespielten Erfolgsmuster zu sorgen, die sich in der Vergangenheit(!) als passend erwiesen haben. Die Gefahr dabei ist offensichtlich – und tausendfach beobachtbar: Nur allzu leicht wird der Punkt übersehen, an dem die dynamische Stabilität eines Systems nicht mehr genügt, um die Veränderungen der Umwelt abzufangen und es daher scheitert.

Sinngemäß schreibt Wimmer, dass überall dort, wo man dieses Problem nicht erkennt und sowohl rechtzeitig als auch entschlossen gegengesteuert, die angestrebten Erfolge letztlich ausbleiben.

Das bedeutet, dass gesamtheitliche Veränderungsprozesse radikal sein und im besten Fall Hilfe von außen zulassen müssen. Aber am Beginn jeder Veränderung steht ein klar artikulierter Wille dazu und konsequentes Anpacken der anstehenden Probleme. Andernfalls ist das Scheitern gewiss.

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