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Freitag, 29. März 2024
Hot!Von demokratischen Konstruktionsfehlern

Plädoyer für intelligente Entscheidungsprozesse

Hintergrund | Andreas Rockenbauer | 28.07.2016 | |  Archiv

Die Mehrheit hat immer Recht, auch wenn sie sich ganz fürchterlich irrt? Das muss nicht sein. Mit dem demokratischen Prinzip des Mehrheitsentscheids wird die Welt sehr plump (und damit dumm) in Gewinner und Verlierer geteilt, wobei es fast so viele Gewinner wie Verlierer gibt, wenn der Mehrheitsentscheid sehr knapp ausfällt. Das ist unsäglicher Unsinn. Und vermeidbar. Mit einem Prinzip, das nicht die Stimmen der Befürworter misst, sondern den Grad des Widerstands gegen verschiedene Optionen. Ein kleiner Unterschied mit riesigen Auswirkungen. Eine Überlegung sollt das wert sein...

„Eigentlich wollten wir den Politikern nur eine blutige Nase verpassen”, versuchte ein älterer Brite (laut Kurier) in einem Londoner Pub sein „Ja” zum Brexit im Nachhinein – und bereits etwas ernüchtert – zu rechtfertigen. Was sich der Mann da gerade vom Herzen geplaudert hatte, ist bei näherer Betrachtung ein schlimmes Eingeständnis: Er hatte auf dem Rücken der Jugend (und nicht nur dieser) für etwas votiert, das ihm per se gar nicht so wichtig war, nur um einer diffusen Emotion Luft zu machen. Den Ausgang kennt man.

Er war ehrlich, aber nicht besonders schlau. Sonst wäre ihm die Ungeheuerlichkeit seiner Anmaßung schon vor dem Voting klar gewesen und er hätte vielleicht anders abgestimmt. Das hier soll jetzt kein Kommentar zu den jüngsten EU-Turbulenzen werden. Dazu fehlt mir die Legitimation, weil ich keine Ahnung habe, was das jetzt alles für die Zukunft von uns allen bedeutet. Etwas Anderes aber ist – nicht erst seit dem alarmierenden Ausgang des Brexit-Votings und der jüngsten Wahl des österreichischen Bundespräsidenten – offensichtlich: Die eklatanten Schwächen demokratischer Abstimmungen. Dabei geht es nicht nur um staatspolitische Entscheidungen, sondern ganz allgemein um solche, die in mehr oder weniger großen Gruppen getroffen werden: Familien, Vereine, Unternehmen, usw.

Von Kindesalter wurden wir mit dem Mehrheitsentscheid als dem schier unumstößlichen demokratischen Prinzip konfrontiert: Die Mehrheit hat immer Recht, auch wenn sie ab und an ganz offensichtlich irrt. Etwa, weil viele Menschen gar nicht in der Lages sind, eine sachlich begründete Wahl zu treffen und ihre Entscheidung bloß von einer aktuellen Befindlichkeit abhängig machen. Das kann ganz üble Dynamiken verursachen, die Demagogen allerorten in die Hände spielen.

Zunächst einmal scheint mir ein elementarer Konstruktionsfehler vieler Abstimmungen, dass die Legitimation des einzelnen Wählers kaum jemals hinterfragt wird. Etwa, wenn Menschen über etwas abstimmen können, von dem sie nicht (oder nicht mehr) betroffen sein werden, was aber für andere von existenzieller Bedeutung ist. Das macht erstere besonders anfällig für ein Abstimmungsverhalten, das sich nicht an den zur Wahl stehenden Optionen, sondern ausschließlich an der eigenen Befindlichkeit und am Bedürfnis orientiert, irgendjemandem in die Suppe spucken zu wollen. Das ist so, als würde ein Mitarbeiter bei der Abstimmung rund um die Zukunft der Werksküche für deren Schließung stimmen, obwohl er am Monatsletzten das Unternehmen verlässt.

Der große Vorteil demokratischer Mehrheitsentscheide ist gleichzeitig ihr größter Nachteil: Sie vereinfachen. Dabei ist in unserer Welt das scharf Umrissene die Ausnahme, Unschärfe die Regel. Die Welt ist nur ein wenig schwarz und weiß, aber sehr, sehr grau – in unendlich vielen Schattierungen. Vereinfachung ist nur dort angebracht, wo sie das Vereinfachte nicht bis zur Unkenntlichkeit verfälscht. Ein weiteres Übel ist, dass Mehrheitsentscheide die Entscheider ganz klar in Gewinner und Verlierer trennen, was umso schwerer wiegt, je größer die Minderheit der Verlierer ist 

Vor etwa zehn Jahren ist mir ein Buch in die Hände gefallen, in dem ein steirischer Physiker und Mathematiker sowie ein Wiener Elektrotechniker eine Theorie für optimierte Entscheidungsprozesse entwickelten. Das Buch heißt „Das SK-Prinzip” und ist von Erich Visotschnig und Siegfried Schrotta. Das „SK” steht dabei für die sperrige Bezeichnung „Systemisches Konsensieren” und setzt auf Konsens bei Gruppenentscheidungen. Im Gegensatz zum Kompromiss, der stets den schalen Beigeschmack einer Loose-loose-Lösung hat und eine „Übereinkunft durch beiderseitige Zugeständnisse” bedeutet, ist der Konsens in der Bedeutung von „Übereinstimmung der Meinungen” bzw.  „einstimmiger Beschluss” deutlich positiver belegt.

Beim SK-Prinzip, das durchaus kontroversiell diskutiert werden kann, ist die grundsätzliche Überlegung jene, Einwände ernst zu nehmen, indem generell nicht FÜR einen Vorschlag abstimmt wird, sondern jeder Betroffene seinen WIDERSTAND GEGEN die zur Wahl stehenden Vorschläge quantifiziert – von 0 (kein Widerstand), bis 10 (sehr großer Widerstand). Das ist ein bedeutender Unterschied, zumal sich leicht zeigen lässt, dass Menschen Schwierigkeiten haben, dem Lösungsvorschlag eines Andersdenkenden zuzustimmen, aber durchaus geneigt sind, einer Lösung einen niedrigen Widerstandswert zu geben, auch wenn sie vom Gegenüber kommt.

Siegfried Schrotta dazu: „Statt uns für jenen Lösungsvorschlag zu entscheiden, der die meisten Befürworter hat, können wir jenen Vorschlag wählen, der die wenigsten Gegner hat. Da Menschen immer dem Erfolg nachjagen, orientieren sie ihr Verhalten auch in diesem Fall am neuen Erfolgsprinzip und trachten daher, die Zahl der Gegner und ihre Ablehnung zu verringern, um den eigenen Vorschlag durchzubringen: Dazu müssen sie die Anders-Denkenden verstehen und deren Interessen in ihrem Vorschlag so gut es geht berücksichtigen.” Auch wenn man das auf den ersten Blick nicht glauben mag: Es macht dennoch einen riesigen Unterschied, der sich etwa in deutlich positiver Gruppendynamik äußert.

Selbstverständlich ist das SK-Prinzip (im Internet findet sich viel Lektüre zum Thema) nur für demokratisch zu treffende Entscheidungen tauglich, für viele Management-Entscheidungen gilt das nicht. Aber auch wenn es kein Allheilmittel ist, so kann es rund um unsere Entscheidungsprozesse zum Nachdenken anregen. Und sei es nur, damit die Entscheidung, wo der nächste Urlaub stattfinden soll, innerhalb der Familie in Zukunft zu weniger Konflikten führt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen schönen Sommer, viel Muße, wenige Konflikte und den Luxus, über Dinge nachzudenken, die nicht unmittelbar mit Umsatz zu tun haben.

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